„Wir müssen unsere digitale Souveränität zurückgewinnen“

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Suchen, informieren, kommentieren, kaufen: Internet-Nutzerinnen setzen vor allem auf die Plattformen von lediglich einer Handvoll Internet-Konzerne und diese unterliegen weltweit nur schwachen Regulierungen. Foto: E Vittoriosi/Unsplash

Diese Forschung macht nachdenklich: Martin Andree ist in Medien-Wissenschaften promoviert und habilitiert, lehrt an der Universität Köln Digitale Medien und erkundet die digitale Welt in Deutschland. In seinem Buch „Big Tech muss weg“ beschreibt er die wachsende Konzentration in der Internet-Wirtschaft. Der Forscher plädiert für eine rechtliche Neubewertung von Internet-Konzernen, weil diese erstens zu anderen Pflichten für diese führt und zweitens die gesellschaftlichen Folgen von Fake News oder Hate Speech schwächen könnte. Während des 6. Open Search Symposiums, #OSSYM, das vom 9. bis 11. Oktober am Leibniz-Rechenzentrum stattfindet, wird Andree Auswege aus der digitalen Abhängigkeit aufzeigen: „Es wäre einfach, das Internet für die Menschen zurückzugewinnen“, meint der Medienwissenschaftler. Offene Suche und frei verfügbare Webindices – daran arbeitet das europäische Projekt Openwebsearch.EU sowie viele Freiwillige – sind erste Schritte zur digitalen Souveränität. 

,Big Tech muss weg‘ – fordern Sie in Ihrem Buch. Vor Kurzem hat die US-Regierung das Kartellrechtsverfahren gegen Google gewonnen, weil der Such-Konzern sich durch Verträge und mit Geld auf Plattformen und in Smartphones die Funktion der Standardsuche erkauft hat. Beginnt die Macht von Big Tech jetzt zu zerbröckeln? Dr. Martin Andree: Das Urteil ist sehr ermutigend. Im Gegensatz zu Deutschland und der Europäischen Union hätten die USA sowohl eine lange Rechtstradition der Zerschlagung von Monopolen – und auch eine gesetzliche Grundlage, Monopole zu zerschlagen, nämlich den „Sherman Act“. Allerdings fand der Sherman Act etwa seit der Jahrtausendwende in der Rechtspraxis in den USA keine Anwendung mehr. Sollte das Urteil auch in der Revision halten, könnte das eine neue Epoche antimonopolistischer Urteile einleiten. Allerdings dürfen wir uns aufgrund der politischen Volatilität sowie der Erosion der Demokratie nicht mehr auf die USA verlassen und müssen selbst in Deutschland und in der EU handlungsfähig werden.

Bringt generative KI wie ChatGPT die von Ihnen beklagten Monopole jetzt ebenfalls in Bedrängnis oder entstehen dadurch sogar wieder neue – etwa KI-Anbieter wie OpenAI? Andree: Je mehr Daten ein Unternehmen zur Verfügung hat, desto bessere KI-Technologien kann es entwickeln und trainieren. Generative KI wird die Monopolisierungstendenzen auf den digitalen Märkten also massiv beschleunigen. Dies gilt insbesondere, da wir den Big Tech-Plattformen seit Jahrzehnten die Nutzungsrechte an den von uns erarbeiteten Texten, Bildern oder Videos übertragen haben. Sie haben alle Joker auf der Hand. Wir haben nichts.

Digitalisierung fördert tendenziell Oligo- oder Monopole, heißt es: Muss das zwangsläufig so bleiben? Andree: Die aktuelle Monopolisierung ist das Ergebnis einer aktiven Fehlregulierung und vollständig hausgemacht. Nehmen wir als Beispiel die digitalen Medien. Diese substituieren die analogen Medien. Allerdings haben wir die Plattformen Mitte der neunziger Jahre massiv regulatorisch privilegiert – wir haben aktiv festgelegt, dass sie nicht als Medien behandelt werden. Obwohl sie Medien sind, Inhalte anbieten und diese Inhalte genauso monetarisieren wie etwa ein Fernsehsender oder eine Zeitung, müssen die Plattformen nicht haften. Hätten wir damals gesagt – okay, Ihr werdet behandelt wie Infrastrukturanbieter, Ihr müsst nicht für Inhalte haften, aber Ihr dürft sie dann niemals monetarisieren, hätten wir heute ein ganz anderes Internet. Die Plattformen würden als Infrastrukturen nur Brotkrumen abbekommen, dagegen würden die Blogger, Creatoren, Musiker und Autoren fair bezahlt.

Sie schlagen vor, Anbieter wie Google, Microsoft/Linkedin, Amazon, Meta/Facebook, Apple oder X/Twitter als Medienunternehmen zu behandeln und sie dadurch zur Sorgfalt gegenüber Nachrichten zu verpflichten. Klingt einfach – aber warum ist das nicht schon längst passiert? Andree: Die Tech-Konzerne haben ihren Digitalfeudalismus seit zwei Jahrzehnten als eine Art "Befreiung" dekoriert – und sich selbst als Gralshüter der Meinungsfreiheit inszeniert. Nur so ist es ihnen gelungen, dass sie bis heute sogar kriminelle und strafbare Inhalte zu Geld machen dürfen, ohne dafür haften zu müssen. Dabei ist doch ausgerechnet in digitalen Zeiten und durch die Koexistenz vieler verschiedener Kanäle gewährleistet, dass die Menschen noch nie so viele Möglichkeiten hatten, ihre Meinung frei zu äußern wie heute. Aber die Politik traut sich an das Thema kaum heran, weil sie sofort aus den digitalen Ökosystemen als vermeintliche "Zensoren" gebrandmarkt werden. Besonders übel ist, dass rechtsradikale Parteien wie die AfD oder Trump in den USA dieses ursprünglich linke Ideologem der Netzfreiheit längst gekapert haben, um damit Wasser auf die Mühlen ihres demokratischen Zerstörungswerks zu lenken.

Sie sind Wissenschaftler, erforschen die Vormachtstellung von Internetkonzerne: Was kann Forschung dagegen ausrichten? Oder anders gefragt: Werden Ihre Thesen gehört? Reagieren die Konzerne darauf? Andree: Ich forsche seit mehr als 15 Jahren zum Thema. Aber erst seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk verstehen die Menschen, was hier passiert. Seitdem erhalte ich mehr Aufmerksamkeit, zumal unsere Messungen die weltweit einzige gerichtsfeste Messung dieser Marktdominanz darstellt. Leider ist diese Studie weder in den USA noch in Brüssel bekannt – weswegen ich das Buch „Big Tech muss weg“ gerade übersetzt habe. Die Politik agiert insgesamt viel zu ängstlich und zu langsam. Die Big Tech-Konzerne sind mehrfach gegen mich aktiv geworden. Das macht einerseits Angst, es zeigt aber auch, dass sie genau wissen, wie brisant die Ergebnisse unserer Forschung sind.

Der Einfluss von Big Tech wächst und wächst – können offene Webindices zur Katalogisierung des Internets oder offene Such-Algorithmen noch helfen, die Macht zu brechen? Andree: Ja und nein. Klar ist: Wir müssen unsere digitale Souveränität zurückgewinnen, die wir längst verloren haben. Deshalb sind die Open Search Initiativen gesellschaftlich von enormer Bedeutung. Aber erst, wenn wir die aktuelle monopolistische Fehlregulierung abschaffen und die digitalen Märkte öffnen, können solche Initiativen überhaupt Erfolg haben. So leid mir das tut – aber wir müssen erst den Mut aufbringen und gemeinsam die Bastille stürmen. Sonst wird das nicht klappen.

Warum engagieren Sie sich beim OSSYM24 am LRZ und was wird Thema Ihres Vortrages sein? Andree: Ich bin ein Fan von Open Search und finde es tragisch, dass wir unsere digitale Freiheit ohne jede Gegenwehr an eine Handvoll US-Monopolisten abgetreten haben, die unsere Demokratie und unsere freiheitlichen Werte seit Jahren und Jahrzehnten konsistent mit Füßen treten. Es wäre einfach, das Internet für die Menschen zurückzugewinnen. Die konkreten Maßnahmen zeige ich auf der Konferenz. Gut ist: Es gibt gerade eine positive Dynamik draußen. Immer mehr Menschen verstehen, dass sie seit vielen Jahren von Big Tech betrogen werden. Wir hätten eine parlamentarische Mehrheit von 80 bis 90 Prozent. Worauf warten wir also noch? (Interview: vs/LRZ)

MA

Dr. Martin Andree, Medienwissenschaftler, Autor und
Keynote Speaker des #OSSYM24 am LRZ