„MillenniumTNG ist eine Art Schatzkiste, mit der wir viele Fragen erforschen können“
Die Grafik aus den MilleniumTNG-Simulationen zeigt Neutrinos in der baryonischen Materie unseres Universum.
Dem Wissen über das Universum, der Entstehung des Universums und der möglichen Kollision von Galaxien einen Riesenschritt nähergekommen. Ein internationales Forschungsteam um Prof. Dr. Volker Springel, Astrophysiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching, legt die bisher größte, hochaufgelöste Dunkle-Materie-Simulation vor, die eine Region von fast 10 Milliarden Lichtjahren abdeckt. Sie wurde auf den Supercomputern SuperMUC-NG des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) sowie auf Cosma8 der Universität Durham in Großbritannien durchgeführt. Die Modellierung der dunklen Materie und der Galaxienentstehung gehört zu MillenniumTNG – eine Reihe großvolumiger Simulationen zu unserem Universum. Diese werden nun hinsichtlich verschiedener Fragen ausgewertet und haben bislang annähernd 50 Analyseprojekte angestoßen. Zehn davon publizierten bereits Ergebnisse im Fachjournal „Monthly Notices of the Royal Astronomical Society“. Erstmals berücksichtigt eine Simulation außerdem die Neutrinos, jene Geisterteilchen, die nur mit winziger Masse im Universum auftauchen: „Die kosmologischen Daten sind inzwischen so präzise, dass man selbst kleine Einheiten vermessen kann. Wir können nun mehr über die Neutrinos erfahren, ihre Eigenschaften und vielleicht sogar ihre Masse kennenlernen“, freut sich Springel im Interview. „Wir versuchen, mit numerischen Modellen die Entwicklung des Universums nach dem Urknall nachzuvollziehen.“ Und während MillenniumTNG ein Modell zur Erforschung weiterer Phänomene für Kosmologie, Astrophysik und Physik bietet, werden die Simulationscodes auf die Beschleunigung durch Graphics Processing Units (GPU) und auf Nutzung von Methoden der Künstliche Intelligenz (KI) vorbereitet: „Wir wollen möglichst flexibel verschiedene GPU-Technologien ausnutzen und dabei ist noch nicht klar, ob alle unsere Solver überhaupt beschleunigt werden können“, benennt Springel Herausforderungen. „GPU fordern andere Algorithmen und damit einen nicht unerheblichen Entwicklungsaufwand.“
Sie erforschen den Kosmos und die Entstehung von Galaxien – provokante Frage: Was bringen uns Ihre Erkenntnisse? Prof. Dr. Volker Springel: Sicher keinen ökonomischen Nutzen, es ist reine Grundlagenforschung, von wissenschaftlicher Neugier getrieben. Viele Menschen sind fasziniert vom Universum, vom Ursprung der Welt und sie möchten gerne verstehen, wie sich Alles entwickelt hat und es weitergeht. Antworten auf diese existenziellen Fragen gibt die astrophysikalische, kosmologische Forschung. Als Nebeneffekt weckt sie die Begeisterung für Naturwissenschaften und Grundlagenforschung. Die ist nützlich, auch wenn man sich nach dem Studium mit pragmatischeren Fragen beschäftigt. Nicht zuletzt treiben Astrophysik und Astronomie die technische Entwicklung – etwa bei den Beobachtungsteleskopen und Satelliten.
Die neueste Serie großvolumiger Simulationen, MillenniumTNG, zeigt nun die Galaxien- und Materieverteilung erstmals physikalisch stabil und für ein Volumen, das das gesamte Universum repräsentieren kann – wer kann diese Simulationen nutzen? Springel: Die Forschenden der Kosmologie und der theoretischen Astronomie. Wir benutzen dieses Modell, um unsere Theorien über das Universum zu testen und mit neuen Beobachtungsdaten abzugleichen. Momentan liefern sehr viele Beobachtungsmissionen Informationen zum frühen Geschehen im Universum. Das James-Webb-Weltraumteleskop beobachtet die Kinderstube unseres Kosmos, auch der gerade gestartete Euclid-Satellit wird sehr präzise Beobachtungen von einer Milliarde Galaxien liefern und damit gewaltige Karten des Universums produzieren. Um diese statistischen Daten auszuwerten, brauchen wir theoretische Modelle und Computer, um unsere Vorstellungen vom Geschehen im All zu validieren.
Sie beschäftigen sich mit Numerik, entwickeln die Formeln und Modelle, mit denen Messwerte und Beobachtungsdaten verarbeitet werden. Erst Millennium, dann IllustrisTNG und jetzt MillenniumTNG – was unterscheidet diese Modelle voneinander? Springel: Diese Modelle bauen aufeinander auf und wurden in mehr als zehn Jahren immer detailreicher, vollständiger. Das Konzept dahinter: Wir versuchen, mit numerischen Modellen die Entwicklung des Universums nach dem Urknall nachzuvollziehen, immerhin ein Zeitraum von mehr als 13,5 Milliarden Jahren. Realisieren wir dabei die Anfangsbedingungen auf dem Computer und rechnen die korrekten, physikalischen Gesetze vorwärts in der Zeit, müsste ein Universum herauskommen, wie wir es heute sehen können. So gleichen wir Theorie und Beobachtung ab. 2005 konnte man mit der Millennium-Simulation nur die dunkle Materie berechnen, das war bereits bahnbrechend. Doch die normale Materie aus Helium und Wasserstoff, die so genannte baryonische Materie, konnten wir erst mit IllustrisTNG berücksichtigen. Dazu mussten wir aber verschiedene physikalische Prozesse noch besser verstehen und brauchten zudem deutlich höhere Rechnerkapazitäten. Mit MillenniumTNG können wir jetzt die baryonische Materie in einem hohem Detailgrad simulieren, außerdem die Hydrodynamik, die Sternenentstehung und die Physik der schwarzen Löcher. Die Serie von Simulationen, die wir auf dem SuperMUC-NG und Cosma8 gerechnet haben, ist im Vergleich zu IllustrisTNG zwar kein riesiger Schritt, aber doch ein wesentlicher. Sie beachtet nämlich eine neue Komponente, die Neutrinos. Das sind Geisterteilchen, die nur ein bis zwei Prozent der Materiedichte ausmachen, weshalb man sie früher der Einfachheit halber vernachlässigte. Jetzt aber sind die kosmologischen Daten so präzise, dass man diese kleinen Einheiten vermessen kann. Das macht die Simulation besonders interessant – wir können nun mehr über die Neutrinos erfahren, ihre Eigenschaften und vielleicht sogar ihre Masse kennenlernen.
MillenniumTNG basiert auf den Programmen Gadget4 und Arepo – wozu brauchten Sie diese? Springel: Beides sind zwei sehr große, parallele kosmologischen Simulationsprogramme, die hier am Max-Planck-Institut für Astrophysik entwickelt wurden und welche die Schwerkraft über große kosmologische Distanzen in einem sich ausdehnenden Universum berechnen. Gadget ist etwa 25 Jahre alt, Arepo mehr als 10 Jahre und baut auf Gadget auf. Arepo benutzt bewegte Gitter und berechnet die Hydrodynamik und insbesondere turbulente Strömungen sehr genau. Die vierte Version von Gadget wiederum hilft uns, Neutrinos zu simulieren. Beide Codes ergänzen sich, mit ihnen können wir insbesondere die Gravitation extrem genau und auch sehr schnell berechnen.
Kann MillenniumTNG auf andere Fragestellungen übertragen werden? Springel: Das MillenniumTNG-Modell und die entsprechenden Simulationen kann man für sehr viele wissenschaftliche Fragen einsetzen. Gerade wurden die ersten zehn wissenschaftlichen Arbeiten aus unterschiedlichen Fachbereichen der Astrophysik publiziert, die auf Basis der Simulations-Serie entstanden, ungefähr 45 weitere Analyseprojekte sind derzeit in Planung. Mit MillenniumTNG lassen sich nicht nur kosmologische Aspekte berechnen, sondern auch astrophysikalische Fragen zur Entstehung und Entwicklung von Galaxien klären sowie das kosmische Netz intensiv untersuchen. Die Bandbreite der wissenschaftlichen Studien, die man mit Hilfe dieser Simulationen durchführen kann, ist weit. Die Simulationscodes selbst werden übrigens nicht nur für das Universum eingesetzt, wir benutzen Arepo zum Beispiel, um Kollisionen von Sternen oder Galaxien nachzuvollziehen oder um protoplanetarische Scheiben und die Entstehung von Sternen und Planeten zu beschreiben. Die Verbesserungen, die wir für MillenniumTNG in den Codes vorgenommen haben, wirken sich auch auf diese anderen Anwendungsbereiche aus und bieten dort mehr Möglichkeiten.
Die größte Simulation unseres Universums wurde auf dem SuperMUC-NG des LRZ gerechnet sowie auf Cosma8 der Universität Durham – was unterscheidet die beiden Rechner? Springel: SuperMUC-NG ist mit seinen 311.040 Rechenknoten das deutlich größere und schnellere System der beiden. Wir haben darauf die Hauptrechnung, unsere hydrodynamische Simulation, die auch die Entstehung der Sterne, Supernova-Explosionen und die schwarzen Löcher mitmodelliert, durchgeführt. Dafür braucht man enorm viel Rechen- oder CPU-Zeit, und SuperMUC-NG ist ein sehr leistungsfähiger und schneller Rechner. Aber wir haben ja nicht nur eine Simulation durchgeführt, sondern mehrere, unter anderem eine zweite große nur mit dunkler Materie auf Cosma8. Diese Rechnung ist physikalisch etwas einfacher, aber trotzdem sehr umfassend, weil sie ein sehr großes Volumen abdeckt. Insgesamt ist die Rechnung hinsichtlich von CPU-Zeit nicht ganz so anspruchsvoll, braucht aber viel Speicher. Cosma8 hat pro Rechenknoten sehr viel Speicher. Auch wenn der Computer etwas langsamer ist, konnten wir deshalb dieses relativ große Volumen berechnen. Daher ergänzten sich beide Rechner in dem Projekt sehr gut.
SuperMUC-NG ist ein Rechner, der hauptsächlich auf CPU aufgebaut ist, Phase 2 enthält nun außerdem GPU als Beschleuniger und für den Einsatz von Verfahren der KI: Wird sich dadurch Ihre Arbeit verändern? Springel: Ja – GPU sind eine Technologie, der wir uns stellen müssen. Wir passen gerade unsere Simulationscodes für die GPU-Beschleunigung an, haben bereits erste Solver entwickelt und bereiten unsere Anwendungen für die Phase 2 von SuperMUC-NG sowie die nächste Rechnergeneration der Exascale-Systeme vor. Das macht die parallele Programmierung allerdings ein gutes Stück anspruchsvoller. Wir wollen möglichst flexibel verschiedene GPU-Technologien ausnutzen und dabei ist noch nicht klar, ob alle unsere Solver überhaupt damit beschleunigt werden können. Unsere relativ komplexen Algorithmen wurden jahrzehntelang im Hinblick auf eine serielle, massiv parallele Architektur optimiert. Um effizient bestimmte Probleme berechnen zu können, fordern GPU jetzt andere Algorithmen und damit einen nicht unerheblichen Entwicklungsaufwand. Für unsere teils hoch dynamischen Berechnungen brauchen wir außerdem extrem adaptive Gitterverfahren – diese auf einen Beschleuniger oder Accelerator zu bringen, der eigentlich dafür bestimmt ist, viele ähnliche oder gleiche Operationen schnell auszuführen, ist nicht trivial. Vermutlich können wir ein so großes Projekt wie MillenniumTNG in der Zukunft nur übertreffen, wenn es gelingt, Simulationscodes durch GPU zu beschleunigen und darauf anzupassen. GPU ermöglichen außerdem KI-Verfahren, und diese werden auch in meinem Bereich immer stärker eingesetzt. Sie machen die klassische Simulation nicht überflüssig, wir brauchen schließlich auch Trainingsdaten. Ein Ziel ist es aber, Simulationsdaten zu verallgemeinern. Wenn wir von MillenniumTNG nicht nur jeweils eine Simulation bekämen, sondern Varianten, für die jeweils bestimmte Eingabeparameter ganz leicht verändert wurden, könnten wir noch mehr erreichen. Dieser Ansatz wird momentan stark verfolgt, auch das Konzept, mit vielen kleineren Simulationen zu arbeiten. Um daraus allerdings Trainingsdaten zu ziehen, braucht man mindestens eines oder mehrere solide Modelle auf der Basis von detaillierten Physik-Simulationen, zwischen denen man interpolieren kann.,
Methoden der KI ergänzen heute Ihren Werkzeugkasten, Quantenprozessoren bald wahrscheinlich auch. Was erwarten Sie für Ihre Zukunft? Springel: Quantencomputer sind eine faszinierende Technologie. Fraglich ist aber, ob sie universell programmierbar sein werden. Es ist klar, dass ein Quantencomputer bestimmte Problemstellungen extrem effizient lösen kann, aber eben noch nicht alle Probleme, er ist kein universeller Supercomputer nach meinem Verständnis. Das wird auf absehbare Zeit so bleiben, die Anzahl der Qubits ist beschränkt, Speicherfähigkeit und Programmierbarkeit begünstigen bestimmte Klassen von Algorithmen, aber nicht alle Rechenverfahren. Ich mag falsch liegen – aber für meine eigene Arbeit erwarte ich in mittlerer Perspektive noch keinen direkten Einfluss. Nach meinem Verständnis eröffnen Quantencomputer revolutionäre Möglichkeiten, aber auf absehbare Zeit nur für bestimmte Berechnungsprobleme. MillenniumTNG, so eine komplexe Berechnung, wird man in naher Zukunft nicht auf einem Quantencomputer machen können.
Was sind die nächsten Pläne für MillenniumTNG? Springel: Wir wollen noch eine ganze Reihe an wissenschaftlichen Themen bearbeiten, etwa die Galaxienhaufen. Im Vergleich zu früheren Rechnungen hat die Simulation ja ein sehr großes Volumen, und das ermöglicht es erstmals, sehr schwere, massereiche Galaxienhaufen zu studieren. Die sind sehr selten und haben einen großen Abstand untereinander. Früher gab es davon in einer Simulation höchstens mal einen, jetzt gibt es davon gleich Dutzende, Hunderte. So können wir endlich die sehr seltenen Galaxienhaufen und die Kollisionen zwischen ihnen studieren. Das ist für kosmologische Fragen sehr wichtig. Wir werden die Korrelationen zwischen unterschiedlichen Signalen studieren können, etwa Gravitationslinsen-Effekte, Röntgenstrahlungs-Hintergrund und dem Sunyaev-Zeldovich-Effekt . MillenniumTNG ist eine Art Schatzkiste, mit der wir in den nächsten Jahren viele Fragen studieren und erforschen und viele Paper schreiben können. Und wir werden hoffentlich viele Dinge entdecken, die uns überraschen. (Interview: vs)
Prof. Dr. Volker Springel, Astrophysiker und Initiator von MilleniumTNG