„Die Kunst beim Modellieren ist, die Spreu vom Weizen zu trennen“

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Das Verhalten von Menschen in Mengen simulieren: In der Mathematik und Numerik
menschelt es neuerdings. Prof. Hans-Joachim Bungartz erklärt die Gründe. Foto: A. Bracken/Unsplash

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag: Hans-Joachim Bungartz, promovierter Mathematiker und Informatiker, Inhaber des Lehrstuhls für wissenschaftliches Rechnen an der School of Computation, Information and Technology (CIT) der Technischen Universität München (TUM) und einer der Direktoren des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ), ist gerade 60 geworden. Ein guter Anlass, sich mit dem Spezialisten für Codes und Gleichungen über Simulationen und Entwicklungen in der Numerik zu unterhalten. „Mir gefällt“, so der Professor, „das Abstrakte oder Generische, dass ich mit einer numerischen Methodik viele Fragen lösen kann. Es hat mich immer inspiriert, dass man als Numeriker auch Enabler ist.“ Dinge möglich machen – Bungartz tritt zupackend, pragmatisch, sympathisch, nahbar auf. Statt Lederschuhen Outdoor-Sandalen, statt Anzug kariertes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Bungartz redet schnell, braucht wenig Fachwörter, unterstreicht viele Aussagen mit Praxis-Beispielen. Künstliche Intelligenz und Datenwissenschaft brächten seinem Fach jetzt viel mehr Aufmerksamkeit: „Numerik war bisher ein Spezialwerkzeug, das nur wenige Menschen brauchten. Jetzt nutzt jeder Zweite Numerik, dadurch wird das Fach attraktiver. Solche Entwicklungen wecken das Gefühl, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz zu sein“, so der Wissenschaftler. Und: „Simulation ist aus Industrie und Wissenschaft nicht mehr wegzudenken. Es geht aber nicht nur darum, einen raffinierten Code zu entwickeln. Das Gros der Aufgaben besteht darin, vorhandene Codes so zu bearbeiten, dass sie in kurzer Zeit auch auf einem PC oder Supercomputer durchgerechnet werden können.“ Und neuerdings menschelt es auch in der Simulation – wenn es darum geht, Formeln für Verhaltensweisen zu finden.

HJB-1  Prof. Dr. Hans-Joachim Bungartz – Mathematiker, Informatiker, LRZ-Direktor

Wie sind Sie zur Informatik und zur Mathematik gekommen? Prof. Dr. Hans-Joachim Bungartz: Ich wusste vor dem Abitur nicht so richtig, was tun – das Luxusproblem, wenn man sehr gute Noten hat. Also habe ich in der 13. Klasse meine Lehrer:innen gefragt, was das schwierigste Fach ist. Alle sagten Mathematik, aber einer meinte auch, die sei ein bisschen altbacken und ich solle mir mal Informatik angucken, da würde jetzt viel Neues passieren. Und so kam es dann.

Sie haben sich mit algebraischen Mehrgitterverfahren, für die Promotion mit dünnen Gittern und der dreidimensionalen Poisson-Gleichung beschäftigt. Wofür braucht man das? Bungartz: Meine Promotion war eine der frühen Arbeiten zum Thema dünne Gitter. Mehrgitter-Verfahren sind ein numerischer Klassiker, eine Möglichkeit, große Gleichungssysteme effizient zu lösen. Als ich studierte, wurden sie endlich richtig verstanden und kamen breit in die Anwendung. Dünne Gitter waren früher für ähnliche numerische Probleme gedacht und werden heute zu 80, 90 Prozent in der Datenanalyse eingesetzt. Im Prinzip ein Wahnsinn – ein numerisches Instrument nimmt die Hochdimensionalität vorweg und wird heute für Datenanalyse eingesetzt. In der klassischen Simulation arbeitet man mit Kontinuum, Mechanik, Physik, drei Dimensionen plus Zeit. Heute rechnet man mit vielen Dimensionen, und mit Daten und KI lösen wir Parameter-abhängige Probleme. Mit vielen Parametern wird das Hochdimensionale spannend. Das ist typisch für die Wissenschaft: Etwas wie die dünnen Gitter werden mit einem klaren numerischen Ziel entwickelt, aber erst 20 Jahre später erfolgreich, in einem ganz anderen Bereich.

Sie promovierten mit einem Stipendium von Siemens, waren Assistent am Institut für Informatik der TUM. Seit dieser Zeit stehen neben Ihren Positionen das wissenschaftliche Rechnen und Simulation. Was finden Sie daran interessant? Bungartz: Der Klimaforscher beantwortet mit Simulationen Klimafragen, der Materialwissenschaftler entwickelt damit neue Stoffe. Das interessiert mich gar nicht so brennend. Mir gefällt das Abstrakte oder Generische, dass ich mit einer numerischen Methodik viele Fragen lösen kann. Es hat mich immer inspiriert, dass man als Numeriker auch Enabler ist. Manche meiner Kolleg:innen frustriert, dass sie bei Veröffentlichungen über große Errungenschaften fast nie vorne drauf stehen. Professor Roland Bulirsch, einer der ganz Großen in der Numerik, der letztes Jahr leider verstorben ist, hat gesagt: Überall ist Numerik drin, und Technik funktioniert nur auf Grundlage von Numerik. Wenn aber ein Roboter etwas erstmalig kann, dann wird die Robotik bejubelt, und nicht der Lieferant der Grundlagen. Mir ist das ziemlich egal, mir gefällt, dass Numerik mit vielen Wissenschafts-Communities zusammenkommt. Monokultur im Fach fand ich immer eng.

Sie entwickeln also lieber Algorithmen für die Modelle? Bungartz: Genau, die Modelle kommen typischerweise von der Domänenwissenschaft. Da helfen Mathematiker:innen signifikant mit, aber das sind andere als die Numeriker:innen. Unsereins nimmt das Modell und versucht, eine effiziente Lösung für den Einsatz am Computer hinzukriegen.

Simulation: Wichtige Fragen auch heimlich lösen können

Sie haben ein Grundlagenwerk Modellbildung und Simulation mitverfasst. Für welche Forschungsdisziplinen übersetzen Sie Modelle in Codes? Bungartz: Unter Modell verstehe ich die mathematisch-physikalische Beschreibung, die Gleichungen, die einen Zusammenhang aus Physik, Chemie oder dem Ingenieurwesen beschreiben. Im wissenschaftlichen Rechnen übersetzen wir Modelle in effiziente, gut parallelisierbare Algorithmen für Computer und Hochleistungsrechner. Und das kann uns zuweilen jahrelang beschäftigen. Zum Beispiel in der Plasmaphysik, wenn die Abläufe in einem Plasma-Reaktor simuliert werden. Seit mehr als 10 Jahre sitzen wir dazu mit der Arbeitsgruppe von Prof. Frank Jenko vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik zusammen. Die Gruppe hatte das Gefühl, dass sie mit ihren Modellen mehr erreichen könnten, wenn sie mit dem Algorithmus einen Schritt weiter wären. Daher haben wir zuerst den Solver ausgetauscht, danach die Diskretisierung und die Parallelität verbessert. Weil das Standardmodell fünf- oder sechs-dimensional ist, setzten wir auf dünne Gitter. Dabei erzeugt man in jeder Richtung Punkte zum Diskretisieren, will man aber eine vernünftige Auflösung, braucht man 10 oder besser 1000 oder gar 10.000 Punkte in jeder Richtung und muss folglich in Dimensionen von 10 hoch 18 oder 10 hoch 24 rechnen. Das überfordert einen Supercomputer immer noch. Mit den dünnen Gittern kann man das Problem aber auf das Niedrigdimensionale runterbrechen. Mit dieser Aufgabe sind wir aber noch lange nicht fertig, wir brauchen noch effizientere Algorithmen und noch bessere Codes.

Wo machen Simulationen wirklich Sinn? Bungartz: Natürlich überall. Im Ernst: Das ist eine Frage der Ökonomie, eine Simulation ist oft effizienter als ein Experiment, heute kommt noch die Prognosemöglichkeit hinzu. Durch die Zusammenführung von Simulation und Experiment kann zum Beispiel im medizinischen Bereich viel erreicht werden. Für mich sind – das mag möglicherweise heikel klingen – die Atomwaffenversuche ein gutes Beispiel für den Nutzen und die Risiken von Simulation: Nicht die moralischsten Regierungen sind zuerst aus den Atomversuchen ausgestiegen, sondern die, die als erste am Rechner simulieren konnten. Erst die USA, dann Großbritannien und Frankreich, als letztes Russland und China. Auch ein ethisches Problem wird sichtbar: Wurde die Welt besser dadurch, dass Atomwaffenversuche am Rechner stattfinden? Auf den ersten Blick ja. Das Atoll Mururoa in Neukaledonien wird nicht mehr belästigt. Weltweit gibt es keine Fernsehbilder von Atompilzen mehr. Natürlich wird aber die Waffentechnologie trotzdem weiterentwickelt. Und hier beginnen durchaus auch Gefahren der Simulation: Sie nimmt wichtige Fragen aus der Öffentlichkeit. Große Experimente kann ich nicht verheimlichen, werden sie jedoch simuliert, bleibt vieles im Verborgenen.

HJB-2  Musik entspannt: Bungartz spielt beim Akademischen OrchesterVerband

Wo lassen Sie sich inspirieren? Bungartz: Ich bin gerne draußen oder mache Musik. Das kann inspirieren, aber eigentlich schalte ich dabei eher ab und lass mir das Oberstübchen durchpusten. Selten denke ich beim Laufen über ein wissenschaftliches Problem nach und dann macht es bei Kilometer 4,7 Klick. Nein – Anregungen finde ich im Diskurs und in Gesprächen mit Doktorand:innen oder Kolleg:innen oder auch, wenn mir Forschende ein Problem darstellen. Dann versuche ich, eine Brücke zu Projekten und Problemen zu bauen, die ich mit meinem Team bereits gelöst habe.

Welche Entwicklung in den letzten Jahren hat Ihre Arbeit richtig vorangebracht? Bungartz: Durch die Entwicklung der Computer konnte unsereiner immer mehr Aufgaben lösen. Andererseits werden wir herausgefordert, wenn wie jetzt für die Exascale-Klasse neue Computer-Architekturen kommen. Dann müssen numerische Algorithmen an neue Prozessoren und Beschleuniger angepasst werden. Was uns zuletzt ebenfalls vorangebracht hat, sind KI und Datenwissenschaften. Damit ist das wissenschaftliche Rechnen stärker ins Rampenlicht gerückt. Numerik war bisher ein Spezialwerkzeug, das nur wenige Menschen brauchten. Jetzt nutzt jeder Zweite Numerik, dadurch wird das Fach attraktiver. Solche Entwicklungen wecken das Gefühl, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz zu sein.

Sie sind seit 2008 einer der Direktoren des LRZ. Nutzen Sie dessen Supercomputer? Bungartz: Tatsächlich probieren wir die Rechner und den Supercomputer immer mal wieder aus. Wir sind zwar nicht die besten Kunden der großen Rechenzentren mit den dicksten Jobs, aber mein Lehrstuhl ist an einigen Forschungskonsortien beteiligt, in denen wir die Eignung von Codes testen, die Skalierung von Programmen evaluieren oder Algorithmen auf hunderttausenden Cores rechnen. Oft arbeiten wir an den Hochleistungs-Systemen, wenn sie für Wartungsintervalle heruntergefahren werden. Dann entstehen Zeitfenster, in denen wir die ganze Maschine ausprobieren können.

Abstraktionsvermögen und Fachwissen gefragt

Modelle beschreiben Wirklichkeit, Funktionsweisen, Phänomene: Welche Fähigkeiten braucht man, um gute Modelle zu entwickeln? Bungartz: Für Modelle brauchen Sie ein gewisses Abstraktionsvermögen und Sie sollten wissen, welches die richtigen Gleichungen für jeden Modellierschritt sind. Sie sollten sich in Ihrem Fach gut auskennen. Bei einer Klimasimulation etwa stellt sich die Frage, welche physikalischen oder chemischen Effekte, welche Parameter man also mitnehmen sollte. Die Kunst beim Modellieren ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ingenieurwissenschaft oder Technik wollen mit Hilfe der Simulation bessere Anlagen bauen. Wo liegt das Optimierungspotenzial von einem Motor? Die dritte große Aufgabe der Simulation, die durch KI gestärkt wird, ist die Prognose: Ob Naturkatastrophen, Klima, Finanzmärkte – man will nicht mehr nur verstehen, warum es zum Crash gekommen ist, sondern auch Instrumente entwickeln, um diesen zu verhindern. Das ist die Königsdisziplin. Vermutlich werden Seismologen mit Hilfe von Simulation kein Erdbeben örtlich und zeitlich exakt vorhersagen können, aber sie können Wahrscheinlichkeiten berechnen und entsprechende Schutzmaßnahmen veranlassen.

Welchen Studierenden raten Sie zum Modell-Rechnen und zur Numerik? Bungartz: Bei uns am Lehrstuhl legen schwerpunktmäßig Informatiker:innen und Mathematiker:innen Bachelor- oder Masterarbeiten ab. Einige kommen aus der Physik oder von den Ingenieurswissenschaften. Wer rein theoretisch oder experimentell arbeiten, wer bahnbrechende Teilchen entdecken will, für den ist Numerik sicher nicht das Richtige. Numerik möchte Formeln und Codes in die Anwendungen tragen. Dafür sollte man gerne in die Mathematik und Informatik eintauchen und sich mit Rechnerarchitekturen beschäftigen. Nützlich sind ein breites Interesse an vielen Wissenschaftsdisziplinen und die Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen. Die Aussichten sind gut: Simulation ist aus Industrie und Wissenschaft nicht mehr wegzudenken. Es geht aber nicht nur darum, einen raffinierten Code zu entwickeln. Das Gros der Aufgaben besteht darin, vorhandene Codes so zu bearbeiten, dass sie in kurzer Zeit auch auf einem PC oder Supercomputer durchgerechnet werden können.

Hatten Sie Vorbilder für Ihre Karriere? Bungartz: Meine Karriere war nicht durchgeplant, hat sich eher ergeben. Vielleicht ist das in der Wissenschaft nicht unüblich. Inspiriert hat mich aber der Werdegang meines Doktorvaters Christoph Zenger. Er hatte Physik studiert, in Mathematik promoviert und ist dann am Informatik-Lehrstuhl gelandet. Er war und ist noch an konkreten Lösungen mit einer knuffigen Algorithmik interessiert, für die man mehr Hirnschmalz braucht.

Sie haben es schon angesprochen Corona, Klimawandel: Warum werden wir gerade jetzt so oft mit Modellrechnungen und Simulationen konfrontiert? Bungartz: Die Simulation hat einen ersten Boom erlebt, als die Rechnertechnologie aufblühte und Großrechner sich etablierten. Das war etwa in den 1980er Jahren und nach 1990 ging es richtig los. Damals wurde die Autoindustrie heftig gebeutelt, suchte nach Möglichkeiten, bei der Entwicklung Kosten zu sparen. Natürlich gibt es den Windkanal noch, aber ein Großteil der Komponenten wird heutzutage simulativ entwickelt. Als 1997 die Mercedes A-Klasse umfiel, wurden Vorwürfe gegen Simulationen laut. Eigentlich hätte man damals kritisieren müssen, die haben nicht vernünftig, nicht ausreichend simuliert oder Simulationsergebnisse falsch bewertet. Dieser erste Simulations-Boom kam in Wissenschaft und Wirtschaft, aber noch nicht in der Gesellschaft an. Der zweite Boom folgte vor wenigen Jahren mit dem Aufkommen von KI und Data Science. Jetzt hofft man, noch stärker in das Prognostische reingehen und verlässliche Vorhersagen machen zu können – und das eben auch für Fragen, die alle interessieren. Predictable Science ist ein Ziel, das heute die Simulation treibt. Auch durch die Pandemie erlebte Modellierung einen massiven Auftrieb. Es gab ja keinen Abend, an dem nicht irgendeine oder irgendeiner im Fernsehen erzählt hat, was die eigenen Modelle zeigen. Simulationen werden immer wichtiger, außerdem gibt es Fragen, die man experimentell gar nicht erschließen kann, etwa in der Astrophysik.

Ist die Visualisierung von Simulationen eine Bereicherung? Bungartz: Wenn die Astrophysik es in die 20-Uhr-Nachrichten schafft, liegt das nicht unbedingt an tollen Entdeckungen, sondern weil es spektakuläre Bilder gibt. Man muss bestimmte Dinge in der Forschung sehen können. Zur Auswertung von Simulationen haben wir früher meterhohe Stapel von Papier ausgedruckt, heute sind es Riesendateien, und meistens Zahlen, aber was sagen die aus? Visualisierung ermöglicht ein intensives und unmittelbares Erleben von den Ergebnissen und ist für die Analyse von Daten ein zentrales Instrument.

Gibt es Fallen beim Modellieren oder was sind die größten Fehler in den Algorithmen? Bungartz: Fallen gibt viele. Sie können – unabsichtlich oder weil es vom Aufwand her nicht anders geht – die wichtigsten Parameter in einem Modell weglassen. Außerdem glaubt man ganz gern, was man sieht. Sind drei, vier Beispiele durchgerechnet und bringen die erwünschten Ergebnisse, wird man zu früh enthusiastisch und testet nicht mehr ausführlich genug. Wird ein Code außerdem speziell auf einen Computer im Rechenzentrum entwickelt oder will man schnell zu einem Ergebnis kommen, ist das zu kurz gedacht. Dann muss der Algorithmus schon nach kurzer Zeit wieder optimiert werden.

HJB-3  Bungartz als Redner ist humorvoll, verständlich, oft mitreißend.

Ping Pong mit HPC und KI

Wie verändern Machine Learning und KI das Simulieren? Bungartz: Die klassische Simulation geht vom Modell aus, ein deduktives Vorgehen: Man nimmt sich Gleichungen, eine Hypothese und leitet davon Daten ab. Die Datenwissenschaften ermöglichen jetzt den umgekehrten Weg: Ohne Modellwissen kann ich Daten analysieren und daraus ein Modell herleiten. Die Analyse von Nachrichten aus sozialen Medien funktioniert oft besser als physikalische Modelle. In Japan hat man zum Beispiel festgestellt, dass Twitterdaten eine hervorragende Möglichkeit zur Vorhersage von Erdbeben liefern. Stunden vor einem Beben hört man die Vögel nicht mehr. Darüber tauschen sich die Leute über Twitter aus. Retrospektiv gesehen ergibt das eine sehr gute Prognose – ein Erdbeben kann ziemlich genau terminiert und sogar lokalisiert werden. Physikalische Modelle dagegen zeigen Wahrscheinlichkeiten auf, dass etwas passiert, aber wann und wo es rummst und wie stark, bleibt oft offen. Es gibt noch andere Beispiele, wie man aus Beobachtungsdaten ein mathematisches Modell ableiten kann. Man könnte sich etwa überlegen, ich schmeiße alle Filmchen, die ich von Flüssen, Bächen oder Seen bekomme, zusammen und lass mir daraus von einer KI eine Differenzialgleichung zu Strömungen herleiten. Das funktioniert natürlich nicht so einfach, aber durch KI haben wir jetzt einen induktiven Zugang zu Modellen. Insofern sind Simulation und KI ein bisschen so ein Ping und Pong. Das eine ist der Weg, wie ich von Modellen zu Daten komme, und das andere ist der Weg, wie ich von Daten zu Modellen komme. Und beides wird in diesem Zusammenspiel den Erkenntnisgewinn beschleunigen. Das ist für die Wissenschaft spannend, erfordert aber ein gutes Verständnis von Modellen und ihren Grundlagen sowie ein Gespür für die Aussagekraft und Qualität der Daten.

KI transportiert viele Vorurteile: Das würde Modelle doch verschlechtern. Bungartz: Die Blackbox-Eigenschaften neuronaler Netze sind sicherlich ein Problem – so manches funktioniert, man kann aber nicht wirklich verstehen warum. In der Wissenschaft müssen wir aber verstehen und brauchen Reproduzierbarkeit. Deswegen glaube ich, dass es wirklich auf das Zusammenspiel aus klassischer Simulation und KI ankommt, dass also immer wieder modellbasierte, nachvollziehbare Arbeitsschritte enthalten sind. Die KI kann auch herausfinden, welcher von den geplanten Parametern passt. Sie allein liefert selten ein verlässliches Ergebnis auf Fragen, aber Indizien, und kann so Wissenschaftler:innen auf die richtige Fährte setzen. Im Bereich Wissenschafts-Assistenzsysteme sehe ich ein wahnsinniges Potenzial, sie können Forschungsprozesse beschleunigen und schneller zu Ergebnissen führen.

Was erhoffen Sie sich fürs Simulieren aus dem Quantencomputing? Bungartz: Laut den Experten ist Quantencomputing noch nicht komplett einschätzbar, aber es ist wichtig, dass man sich jetzt intensiv damit beschäftigt. Es ist eine komplett andere Technologie, von der man heute nur ungefähre Vorstellungen hat, wo sie einem helfen könnte. Quantensysteme bringen Vorteile beim Ausnutzen massivster Parallelität, erlauben das parallele Durchspielen verschiedener Szenarien oder Simulationen. Aber wann das in der Wissenschaft alltäglich werden wird, ist noch offen, und es gibt durchaus Leute, die da noch Zweifel haben.

Wenn's menschelt in Mathematik, Numerik und beim Modellieren

Welches Modell fehlt noch? Oder wo würden Sie beim Simulieren gerne Ihre Erfahrungen einbringen? Bungartz: Spannend wird’s, wenn es menschelt. Nehmen Sie den Bereich der Fußgängersimulation. Auf den ersten Blick ist das keine Brüller-Aufgabe, aber in den letzten Jahren haben wir dafür eng mit Professorin Gerta Köster von der Hochschule München zusammengearbeitet, die in genau diesem Bereich forscht. Spannend an der Fußgängersimulation ist gerade der menschliche Faktor. Wollen Sie ein Evakuierungsszenario berechnen, etwa für eine Bombendrohung im Stadion, werden Sie mit physikalischen und mechanischen Ansichten schnell am Ende sein. Hier geben soziales Verhalten und psychologische Komponenten den Ausschlag. Was 2010 in Duisburg passiert ist, wurde anschließend oft nachgestellt, simuliert. Bei solchen Aufgaben will man psycho-soziales Verhalten berücksichtigen. Ich halte das für einen zentralen Faktor, dabei stehen wir aber noch am Anfang. Menschen, die sich in einem Raum aufstellen, verteilen sich nicht gleich, typischerweise bilden sich Grüppchen. Das sind Effekte, die man manchmal durchaus mit harten, physikalischen Modellen erklären kann, teilweise aber eben nicht. Und für das Verhalten in Panik sind diese Fragen wichtig. Mit dem menschlichen Faktor können wir beim Simulieren noch viel erreichen, aber es ist oft noch gar nicht so klar, wie das überhaupt geht.

Haben Sie schon eine Vorstellung, wie man psycho-soziale Verhalten mathematisch ausdrücken könnte? Bungartz: In erster Instanz versucht man, das mit Parametern zu beschreiben. In einem Evakuierungsszenario ist zu beobachten, dass Gruppen versuchen zusammenzubleiben. Eltern werden ein kleines Kind nicht zurücklassen, klar. Aber auch Jugendliche, die gemeinsam zum Fußballspiel gegangen sind, versuchen zusammenzubleiben. Die soziale Bindung ist unglaublich stark. Das kann man über Parameter beschreiben – Vergleichbares findet sich etwa in der Chemie: Auch dort entfernen sich manche Moleküle selten weiter voneinander. Parameter vereinfachen, aber sie bieten Möglichkeiten, damit auch psycho-soziale Phänomene zu formalisieren und in eine Gleichung zu bringen. Aber auch da gilt: Dies ist ein Anfang – da gibt es noch viel zu erforschen. (interview: S. Vieser)