Bilder aus dem Organismus
Das europäische Forschungsprojekt und Centre of Excellence CompBioMed kombiniert Codes und Software und entwickelt so Werkzeuge zur Simulation und Visualisierung von Organen sowie für die Entwicklung von Medikamenten.
Ein Blick von oben hinein in den Unterarm des Menschen: Die Visualisierung ist vielseitug nutzbar und zeigt unterschiedlichste Perspektiven, um
daraus auch immersive Virtual oder Mixed Reality-Anwendungen abzuleiten. Abbildung: LRZ/CompBioMed
Das ist eine Crux in der Medizin: Ärzt:innen können nicht einfach nachschauen, ob und wie Organe funktionieren oder Blut ungehindert durch die Adern fließt. Ihr Wissen beruht meist auf Erfahrung und auf statischen Kurzaufnahmen, die Computer-Tomografen, Röntgen- und andere Diagnosegeräte liefern. Das soll sich in Zukunft ändern: Supercomputer sollen anhand von Messwerten, Daten und Abbildungen lebende Menschen simulieren und visualisieren, einen digitalen Zwilling oder Virtual Human. „Das Konzept kann als digitale Darstellung aller biophysikalischen Prozesse eines Menschen beschrieben werden und entsteht auf Basis konventioneller Bildgebungsverfahren“, heißt es bei CompBioMed.
Daran arbeiten rund 20 Forschungsinstitute und Supercomputing-Zentren seit 2016, sie entwickeln außerdem im Rahmen des internationalen Projekts Techniken und Programme für die Digitalisierung von Medizin und Pharmakologie. Auf beiden Feldern wurden mit Hilfe des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) in Garching jetzt beachtliche Meilensteine erreicht: Gemeinsam mit dem LRZ-Zentrum für Virtuelle Realität und Visualisierung (V2C) gelang es einer Arbeitsgruppe um den britischen Mediziner und Informatiker Prof. Dr. Peter Coveney, den Blutfluss in den Venen und Arterien eines Unterarms zu simulieren und zu visualisieren. „Die Herausforderung dabei ist, die dazu notwendigen Daten zu modellieren und diese dann zu visualisieren“, sagt Elisabeth Mayer, Spezialistin für Visualisierung und virtuelle Realität. „Bei diesem Projekt entstanden große Datenmengen, die nur ein Supercomputer verarbeiten kann.“
Den Blutfluss beobachten und verstehen
Die Grundlage für die Innenansicht eines Unterarms liefert ein offener Lattice-Boltzmann-Algorithmus namens HemeLB, der bei CompBioMed zur dreidimensionalen Modellierung des Blutflusses entwickelt und nun am LRZ so optimiert und angepasst wurde, dass er 80 Prozent Skalierungseffizienz auf dem SuperMUC-NG schafft. HemeLB rechnete mit mehr als 230 Millionen Datenpunkten und 64 Zeiteinheiten, um darzustellen, mit welchem Druck das Blut während eines Herzschlags durch die Adern des Unterarms gepumpt wird. Pro Schritt entstanden 7 Gigabyte an Informationen, zusammen 470 Gigabyte. „HemeLB erzeugt komplexe, große Volumen- und Sparse Data, denn für viele Stellen im Unterarm gibt es keine Daten, weil dort kein Blut strömt“, erläutert Mayer. Man kann sich das wie ein dreidimensionales Schiffe-Versenken-Spiel vorstellen: Heme LB modelliert das Volumen des Unterarms und die Lage von Venen und Arterien mit Hilfe von vielen Würfeln. Doch Adern sind dünne Röhrchen, die nur einen Teil eines Würfels ausmachen und natürlich nicht in allen Würfeln zu finden sind, aus denen der Unterarm zusammengesetzt wird. Das erschwert Auswertung und Visualisierung.
Eine zweidimensionale Sicht in den Unterarm: Die weiß-grau dargestellten Adern sind Arterien, die roten die Venen, von denen es deutlich mehr
gibt. Abbildung: LRZ/CompBioMed
Die so berechneten Werte wurden mit dem quelloffenen Grafikprogramm OSPRay aus dem Intel oneAPI Rendering Toolkit verarbeitet. Doch Daten von einem Programm ins nächste zu heben, das funktioniert schon am Notebook nicht reibungslos, beim Supercomputing ist es immer eine Herausforderung: „Mit den Ideen und der Unterstützung von LRZ-Spezialist:innen und den Biomediziner:innen von CompBioMed hat Intel ein Plug-In entwickelt, damit HemeLB-Daten direkt in OSPray Studio geladen werden können“, berichtet Salvatore Cielo vom Computational X Support-Team des LRZ. Gemeinsam erarbeitete die Gruppe außerdem weitere Werkzeuge und Abläufe, die das Zusammenspiel von HemeLB mit Grafiksoftware deutlich vereinfachen und beschleunigen. „Durch den Workflow gibt es jetzt einen effizienten Prozess zur Visualisierung und die dazu notwendige Zwischenspeicherung von großen Datenmengen“, erzählt Mayer. Mit diesem Tool-Kit lässt sich der Blutfluss nun auch in anderen Körperteilen visualisieren – schon arbeiten CompBioMed und die LRZ-Spezialist:innen am sogenannten Circle of Willis, dem Circulus Arterius Cerebri, einem Gefäßring, der das ganze Gehirn mit Blut versorgt. Statt wie jetzt 7 fallen dabei pro Zeitschritt mehr als 1500 Gigabyte Daten an – SuperMUC-NG hat also lange damit zu tun.
Die Visualisierungswerkzeuge sowie die eindrücklichen Bilder vom Blutfluss lassen die HPC-Community bereits aufmerken: Die Arbeit wurde für den „SC Scientific Visualization & Data Analytics Showcase“, einem Wettbewerb der HPC-Konferenz Supercomputing 2021 eingereicht, landete sofort unter den besten sechs Visualisierungen der Welt und hat gute Chancen im November den diesjährigen Wettbewerb für sich zu entscheiden. „Ein Vorteil unseres Workflows ist, dass daraus beliebige Bilder und Medien entstehen und exportiert werden können“, sagt Fachfrau Mayer. „Alles ist möglich – eine Grafik, ein kurzer Videoclip, sogar ein Kinofilm könnte daraus gemacht werden oder eine dreidimensionale Anwendung für Virtuelle Realität.“ Man stelle sich vor – Ärzt:innen können in den Körper eines Menschen abtauchen: Sie würden Körperfunktionen besser begreifen und verstehen. Werden die Simulationen und Visualisierungen außerdem mit individuellen Patienten-Daten gefüllt, können damit in Zukunft Behandlungsmethoden und Operationen besser geplant und vorab sogar ausprobiert werden.
Die Suche nach Wirkstoffen beschleunigen
Große Datenmengen werden auch bei der Suche nach neuen Wirkstoffen für Medikamente von Supercomputern bewältigt. In diversen Forschungsarbeiten zu COVID-19 verdeutlichten Algorithmen von CompBioMed, wie sich das Virus vermehrt – und wo es besonders angreifbar ist. Mit diesen Vorarbeiten gelang es den Forschenden, schneller solche Substanzen aufzuspüren, die sich an das Virus binden: ein bahnbrechendes Ergebnis, das die gewohnten Entwicklungszeiten für marktfähige Medikamente und Impfstoffe verkürzen kann.
Zur Beschleunigung der Suche nach Stoffen koppelte CompBioMed in einem mehrstufigen Prozess maschinelles Lernen mit bekannten Simulationstechniken der Molekulardynamik. So konnte SuperMUC-NG mit Hilfe von tausenden ESMACS- und TIES-Rechnungen prognostizieren, wie stark organische und anorganische Substanzen mit vier Spikeproteinen des Corona-Virus interagieren. Dafür optimierten das HPC- und CXS-Team bestehende Software und Codes und entwickelten außerdem Managementtools, damit diese möglichst viele der über 311.040 Rechenknoten von SuperMUC-NG auslasten. Mit dessen Rechenergebnissen und Daten trainierten wiederum künstliche, neurale Netze das Screening von Wirkstoffen. Und mit jedem kombinierten Prognose- und Analyseschritt wurden die Ergebnisse präziser und lagen außerdem schneller vor.
In kürzester Zeit screenten SuperMUC-NG in Garching und sein Kollege Summit vom Oak Ridge National Laboratory in den USA auf diese Weise Milliarden von Wirkstoffen, die mit den Zielproteinen von SARS-Cov2 reagieren können. Parallel dazu wurden Workflows zur Implementierung der HPC-Software – unter anderem Gromacs, NAMD, AMBER und OpenMM – sowie die Werkzeuge zum Training smarter neuraler Netze aufgebaut. Mit Hilfe von RADICAL-Cybertools entstand außerdem eine Middleware, die Software, Datenbanken und smarte Systeme miteinander verbindet. „Dieser hybride Ansatz aus Machine Learning und Simulation“, fasst ein kürzlich veröffentlichtes CompBioMed-Paper zusammen, „hat das Potenzial, neue Pandemie-Medikamente in Pandemie-Geschwindigkeit bereitzustellen.“ Noch ein Schritt, der die Pharmaforschung und Medizin in Richtung Zukunft bewegt. (vs)
Elisabeth Mayer veranschaulicht Forschungsergebnisse und entwickelt Virtual Reality-Anwendungen.
Neben Grafiksoftware experimentiert sie dabei mit Game Engines, mit denen Online-Spiele
aufgebaut werden. Sie studierte dafür Kunst und Multimedia, anfangs auch Informatik.