Wir verstehen von Erdbeben nur Details
Durch die Kombination verschiedener numerischer Modelle konnte Alice-Agnes Gabriel mit ihrem Team am SuperMUC-NG des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) neue Erkenntnisse zum Tsunami-Rätsel von Palu/Indonesien gewinnen: Nicht (nur) Erdrutsche am Steilufer lösten die Riesenwelle aus, sondern schnelle Risse am Meeresboden und die enge Tektonik der schmalen Bucht haben wesentlich beigetragen. Dafür und für weitere rechengestützte Erdebenszenarien wird die Geophysikerin, die als akademische Rätin am Lehrstuhl der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) lehrt und forscht, Ende März während des EuroHPC-Summits mit dem PRACE Ada Lovelace Award ausgezeichnet. "Dr. Alice-Agnes Gabriel verwendet numerische Simulationen in Verbindung mit experimentellen Beobachtungen, um unser Verständnis der Physik, die Erdbeben zugrunde liegt, zu verbessern", begründet Núria López, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Lenkungsausschusses von PRACE, die Wahl. "Ihre Arbeit umfasst breite Skalen und kann unser Wissen über diese Naturphänomene verbessern und uns vor deren Folgen schützen." Auch wenn sie selbst gerne Gesteinsformationen untersucht, hat sich Gabriel auf die numerischen und mathematischen Problemlösungen in der Seismologie spezialisiert, High Performance Computing (HPC) gehört damit zu ihrem Alltag. Ein Gespräch über Frauen in Naturwissenschaften und die Zukunft von Supercomputern.
Was bedeutet Ihnen der Ada Lovelace Award?
Dr. Alice-Agnes Gabriel: Sehr viel, weil der Preis erstens fächerübergreifend vergeben wird und alle Disziplinen zeigt, in denen High Performance Computing Wissenschaft unterstützt. In der Geophysik und auch Geologie haben noch viele Kollegen Berührungsängste, trauen sich noch nicht an die Supercomputer und großen Datenprojekte ran. Zweitens macht er Frauen sichtbar in Bereichen, wo sie leider noch unterrepräsentiert sind. Als Seismologin verbinde ich Geophysik und HPC und stoße selten auf Kolleginnen.
Wie steht es um die Frauen in der Geophysik?
Gabriel: Wir waren zu Beginn zu sechst unter 180 Studierenden in der Physik. Aber es hat sich einiges getan: Jetzt fällt es mir nicht schwer, gute Frauen als Doktorandinnen zu finden. Auf Professoren-Ebene ist der Frauenanteil in der Geophysik immer noch gering, in Bereichen wie der computergestützten Seismologie, wo es um HPC, Mathematik und mathematische Probleme geht, noch geringer. Frauen müssen vor allem zu Anfang einer Forscherkarriere Leistungsfähigkeit beweisen, nach dem Post-Doc wird's oft kritisch, wenn du viel reisen, deine Forschung vorstellen, diskutieren und Netzwerke knüpfen sollst. Da wird wenig Rücksicht auf Familie oder Privatleben genommen – das Zweikörper-Problem taucht auf: Auslandsaufenthalte sind in einer Partnerschaft schwer zu organisieren, wenn beide Karriere machen wollen, und als Mutter von kleinen Kindern kannst du nicht immer verreisen. In dieser Phase springen daher viele Frauen ab und gehen in die Industrie. Ich habe zum Glück nach dem Post-Doc sofort meine erste längerfristige (aber immer noch befristete) Stelle und viel Unterstützung des Instituts für Geophysik der LMU München bekommen. Auch die Vernetzung und Medien in der Wissenschaft verändern sich und machen vieles leichter: Ich muss jetzt weniger physisch präsent sein, mit Hilfe von Twitter weltweit Verbindung zu Forschungskollegen halten und mich in Diskussionen einmischen. Die Arbeiten am SuperMUC-NG steuere ich oft von zuhause. Der Gewinn eines ERC Starting Grants Ende 2019 und jetzt der Ada Lovelace Award verändern viel: Ich habe jetzt auf einmal ein Einzelbüro (lacht), werde als Forscherin auf Augenhöhe wahrgenommen und zu viel mehr Projekten eingeladen.
Wie sind Sie zur Geophysik gekommen?
Gabriel: Über die theoretische Physik, Halbleiter und Materialwissenschaften. Dafür berechnete ich bereits große Molekularsimulationen. Aus Idealismus und weil ich gerne etwas mache, was der Gesellschaft nützt, bin ich zur Geophysik gestoßen. Da interessieren mich Erdbeben und die Grundformationen, die diese auslösen. Dabei geht es um ähnliche Fragen wie in der Materialwissenschaft. In der Geophysik rechnen wir eigentlich mit einfachen Gleichungen, die aber zu komplexen Ergebnissen führen. Wir verstehen von Erdbeben nur Details und verfügen über Beobachtungen und Messwerte auf ganz unterschiedlichen Skalen. Seismologie ist von jeher eine datengetriebene Wissenschaft, jede Beobachtung bringt Daten. Daher entwickle ich jetzt Methoden zum Lösen numerischer Gleichungen und mathematische Modelle, um diese Skalen und Wissenslücken zu überbrücken. Eine große Rolle spielt die Integration von Geometrien, die methodisch sehr anspruchsvoll sind und mit denen vorhandene Beobachtungsdaten neu interpretiert werden können. Unsere Lösung des Tsunami-Rätsels von Palu beruht zum Beispiel auf einer Kombination von mathematischen Methoden zur Reibung, sowie zur Ausbreitung von seismischen und Tsunami-Wellen.
Zur Preisverleihung werden sie bei der EuroHPC Summit Week über die Zukunft von HPC und künstlicher Intelligenz mitdiskutieren – wie ist Ihre Meinung?
Gabriel: Gerade in der komplexen Welt der Geophysik können wir nur mit modernen Methoden neue Erkenntnisse gewinnen. Unser großes Modell des Sumatra Erdbebens und Tsunamis von Weihnachten 2004, das auf dem gesamten SuperMUC-NG gerechnet wurde, hatte 111 Billionen Freiheitsgrade. In der Zukunft möchten wir viele solcher Simulationen berechnen, um auch Unsicherheiten betrachten zu können. Gleichzeitig ist künstliche Intelligenz auf dem Vormarsch, nicht nur, um interessante geophysikalische Signale in immer dichteren Messnetzwerken aus dem Hintergrundrauschen herauszufiltern, sondern auch um mathematische Methoden zu verbessern.
Und was wünschen Sie sich für Ihre persönliche Zukunft?
Gabriel: Noch viele weitere spannende Herausforderungen an der Schnittstelle zwischen Supercomputing und der Geophysik – darüber mache ich mir allerdings keine Sorgen, damit stehen wir gerade erst am Anfang. (vs)
Hinweis: Das Interview wurde geführt, bevor die EuroHPC Konferenz abgesagt wurde.