Vortrag von Prof. Notker Rösch

Manuskript, nicht zur Veröffentlichung bestimmt.
Es gilt das gesprochene Wort.

 

Herausforderungen der Chemie an das Höchstleistungsrechnen

Prof. Notker Rösch
Theoretische Chemie, Technische Universität München

Vortrag gehalten am 28. Juni 2000 aus Anlaß
der Einweihung des Höchstleistungsrechners Hitachi SR8000-F1
am Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

 

Sehr geehrte Festversammlung,
Meine Damen und Herren!

Chemie und Höchstleistungsrechnen, so werden sich einige von Ihnen fragen, wie geht das zusammen? Nun, der Zwischentitel im Festprogramm "Demonstration beispielhafter Anwendungen" deutet auf eine Bilanz hin, doch ich möchte mit Ihnen zusammen vor allem nach vorne blicken. Denn angesichts der Leistungsdaten des neuen Höchstleistungsrechners gerate ich schnell ins Schwärmen, wenn nicht gar ins Träumen. Ich möchte Sie daher auf eine kurze Traumreise mitnehmen, auf einen imaginierten Rundflug über Gebiete der Chemie, deren Erkundung, weißen Flecken auf der Landkarte gleich, derzeit aktuell ist und durch Nutzung des neuen Superrechners deutlich schneller vorangetrieben werden kann.

Zentrales Thema der Chemie werden in den kommenden Jahren komplexe Systeme sein. Beispiele sind pharmazeutische Wirkstoffe, nanostrukturierte Materialien, Katalysatoren, aber auch umweltrelevante Systeme. Hauptziel des Rechnereinsatzes in der Chemie ist es, ein Verständnis für Strukturen und Prozesse in derartig komplexen Systemen auf der atomaren Skala zu erarbeiten. Hierzu sind die Kräfte zwischen den Atomen zu berechnen, wie sie von der Quantenmechanik beschrieben werden, um die Dynamik molekularer Systeme zu erfassen. Dabei geht es zentral um die Simulation experimentell nicht oder nur schwer zugänglicher Zustände; mit dem Computer lassen sich kontrollierte Randbedingungen auf der atomaren Skala herstellen und untersuchen. Computersimulationen helfen dabei, Experimente vorzubereiten und zu interpretieren. Derartige "Computerexperimente" sparen Zeit, Ressourcen und damit auch Kosten; in der chemischen Industrie sind diese Vorzüge der Computerchemie bestens bekannt.

Ganz sicher gilt: internationale Spitzenforschung in der Chemie ist heute ohne massiven Rechnereinsatz nicht mehr vorstellbar. Als Beleg dafür sei auf Nobelpreise verwiesen, mit denen jüngst Vertreter der Theoretischen Chemie und Computerchemie ausgezeichnet wurden. Diese Ehrungen galten Erfolgen, die man ohne Übertreibung als Durchbruch der Computerchemie bezeichnen kann.

Der systematische industrielle Einsatz von Hochleistungsrechnen in der Chemie begann in der Pharmaforschung. Erfolge dieses Rechnereinsatzes zur Gestaltung und Optimierung neuer Wirkstoffe sind Ihnen sicher aus Medienberichten bekannt, so daß ich im weiteren nicht näher darauf einzugehen brauche. Beispielhaft soll jedoch ein AIDS-Therapeutikum angesprochen werden, dessen molekulare Ausgestaltung unter maßgeblichem Rechnereinsatz erfolgte. Es handelt sich um einen Wirkstoff, der eine Protease des AIDS-Virus blockiert und so dessen Vermehrung behindert.

Welche neuen Aufgaben liegen vor der Computerchemie? Hier möchte ich als eines der großen Gebiete die Nanowissenschaft nennen. Dabei geht es um die Konstruktion und Untersuchung von Nanostrukturen mit definierten und einstellbaren Eigenschaften, etwa im Hinblick auf den Aufbau einer Nanoelektronik. Die typische Längenskala derartiger Strukturen sind mehrere Nanometer, also etwa 10 bis 100 Bindungslängen zwischen Atomen. Diese Skala liegt damit oberhalb der molekularen Dimension, aber noch deutlich unter dem, was heute Ingenieure routinemäßig bearbeiten. Zur Erinnerung: ein Nanometer verhält sich zu einem Millimeter wie dieser zu einem Kilometer. Nanostrukturierte Materialien oder Systeme werden chemisch oder physikalisch erzeugt, etwa durch Kombination von maßgeschneiderten großen molekularen oder supramolekularen Einheiten.

Typische Bausteine von Nanomaterialien sind Cluster aus Metallen oder Halbleitern, also Einheiten, die in manchem, etwa in der Nahordung der Atome, dem entsprechenden Festkörper ähneln, aber in ihren größenabhängigen Eigenschaften an Moleküle erinnern. Von Interesse sind Gitter aus derartigen Clustern, sog. "Quantenpunkten", bzw. aus magnetischen Quantenpunkte, die organisch oder über Template angeordnet werden.

Andere Strukturelemente sind Makromoleküle. So wird im Hinblick auf eine zu entwickelnde Bio-Nano-Technik DNA als Leiter untersucht. Beispielhaft sei die Verwendung von DNA als "Nanodraht" erwähnt, der zwei Elektroden verbindet. Untersuchungen der Leitfähigkeit von DNA spielen auch eine wichtige Rolle bei der Konstruktion neuartiger Chips zur Genomanalyse, einer neuen Forschungsinitiative an der TU München.

In der Nanoelektronik strebt man an, Schaltkreise so weit zu verkleinern, daß Schaltungen mit einzelnen Elektronen erfolgen. Als Prototyp wurde dies ist beispielsweise an einem SET-Transistor verwirklicht, bei dem das Tunneln einzelner Elekronen (daher der Name: single electron tunneling) gesteuert wird. Sie sehen auf dem Bild einen derartigen Mini-Transistor, bei dem drei Goldcluster die Verbindung zwischen zwei Elektroden herstellen; beachten Sie die dritte Elektrode des Transistors. An Schaltungen, bei denen Quantenpunkte durch DNA-"Drähte" leitend verbunden sind, wird ebenfalls intensiv gearbeitet.

Wichtige Anwendungen für nanostrukturierte Materialien sind der Aufbau von optischen Bauelementen, von neuen Werkstoffen und heterogenen Katalysatoren sowie ihr Einsatz bei der Beschichtung von Oberflächen. Von der Computerchemie wird erwartet, daß sie detaillierte Einblicke in elektronische und geometrische Struktur von nanostrukturierten Materialien liefert und damit deren chemische und physikalische Eigenschaften erklärt. Sie leistet somit einen zentralen Beitrag zur gezielten Herstellung von Bausteinen mit maßgeschneiderten Eigenschaften. Wichtige Voraussetzung dafür ist ein Verständnis der Eigenschaften von nanostrukturierten Materialien und den in ihnen ablaufenden Prozessen auf atomarem Niveau - alles Aufgaben für Theoretische Chemiker.

Zeolithe sind nanoporöse Materialien von vielseitiger Verwendbarkeit. Diese molekularen Siebe spielen in der heterogenen Katalyse eine wichtige Rolle und sie dienen quasi als Mikroreaktoren für Synthesen unter kontrollierten Randbedingungen. In deren Nanoporen lassen sich Komponenten synthetisieren, nicht unähnlich der Konstruktion eines Flaschenschiffes. Als Beispiel erwähne ich Nanopartikel und Nanodrähte aus Platin. Kleinste Metallteilchen, die in den Hohlräumen isoliert und stabilisiert werden, sind sehr effiziente Katalysatoren, bei denen das Metall viel feiner verteilt ist als im Autokatalysator.

Dies bringt uns zu einer weiteren Systemklasse, die in der Chemie heute eine zentrale Rolle spielt, den Katalysatoren. Katalysatoren beschleunigen und lenken chemische Reaktionen. Sie helfen, Energie und Ressourcen zu sparen und unerwünschte Nebenprodukte zu vermeiden und so die Umweltbelastungen durch eine "schlanke" Chemie deutlich zu verringern.

Als ein Beispiel möchte ich den Herrmann-Katalysator nennen, an dem wir jüngst umfangreiche Simulationen vorgenommen haben. Übrigens, die Namensgleichheit mit dem Präsidenten der TU München ist kein Zufall. Dieser Katalysator, ein Komplex des Metalls Rhenium, überträgt ein Sauerstoffatom gezielt auf eine Kohlenstoff-Doppelbindung. Die dabei notwendige Energiezufuhr zur Überwindung der Barriere zwischen den Reaktanden und Produkten ist wesentlich niedriger als bei einer direkten Übertragung, etwa von Wasserstoffperoxid auf Ethylen. Der Stoffumsatz der bei der letztgenannten Reaktion in 300.000 Jahren erreicht wird, liegt bei analogen Bedingungen unter Mitwirkung des Katalysators bereits nach einer Sekunde vor. Wahrlich eine Einsparung!

Wenn es darum geht, eine katalytische Reaktion zu verstehen und zu optimieren, dann muß man die niedrigste Barriere zwischen den Reaktanden und Produkten kennen. Das Bild täuscht einen einfachen Sachverhalt vor, etwa wie ein Blick auf die Alpen von Westen nach Osten, wo alle Pässe hintereinander aufgereiht erscheinen. Der Reaktionsverlauf besteht in diesem Bild darin, den Weg von München durch das Inntal über den Brenner, also über den niedrigsten Paß, nach Italien zu finden. Doch die Situation ist etwas komplexer, da in der Regel ein Netz von Zwischenzuständen aufzuklären ist, die alle ebenfalls durch Sattelpunkte (Pässe) untereinander getrennt sind. Außerdem ist hier nicht die makroskopische Beschreibung mittels gekoppelter Differentialgleichungen gefragt, sondern wiederum ein Verständnis auf atomarer Ebene. Und um die Sache vollends zu komplizieren, zwischen zwei Zwischenzuständen gibt es nicht selten mehrere mögliche Paßrouten und es ist am Anfang unklar, welcher Paß die entscheidende Rolle spielt oder ob nicht mehr als ein Paß berücksichtigt werden muß.

Um einen Katalysator zu verstehen, muß man also eine komplexe Landschaft kartographieren. Nur ist die Zahl der Freiheitsgrade nicht nur zwei, wie bei unseren gewöhnlichen Landkarten, sondern sehr viel größer, proportional zur Zahl der Atome. Bisher haben sich Theoretische Chemiker in den meisten Fällen mit lokalen Erkundungen der Pässe zufrieden geben müssen, nachdem sie von den Experimentalchemikern, in unserem Bild also von den Einheimischen, auf deren ungefähre Lage hingewiesen wurden. Dies geschah mit der Berechnung einzelner Konfigurationen, vergleichbar einer Vielzahl einzelner Fotos. Um die Dynamik einer komplexen katalytischen Reaktion voll zu erfassen, müssen wir aber die analogen "Filme" drehen. Dabei werden viele Systempunkte verfolgt, die sich über eine Energiefläche bewegen, um so alle Pässe und das relative Gewicht der Paßrouten zu ermitteln. Die Erstellung solcher imaginären Filme aus vielen Bildern erfordert einen hohen Rechenwand, hier beginnt das Geschäft der Höchstleistungsrechner.

Auch bisher haben Theoretische Chemiker geholfen, katalytische Reaktionen aufzuklären. Aber der gezeigte Herrmann-Katalysator stellt ein relativ einfaches System dar. Der Brookhart-Katalysator, der eine Polymersierungsreaktion steuert, ist wesentlich komplexer aufgebaut, und die Beschreibung der Polymerisierungsreaktion, die am Metallzentrum abläuft, erfordert wesentlich mehr Aufwand.

Als letztes Beispiel für hochkomplexe Systeme möchte ich die Beschreibung molekularer Prozesse in der Umweltchemie anführen, hier am Beispiel der Verteilung von Schwermetallen, wie Blei, Cadmium, aber auch der Radionuklide, in einer natürlichen Umgebung. Metalle können in Wasser gelöst sein, auf Oberflächen von Mineralien adsorbiert sein oder in Mikroorganismen aufgenommen werden, komplexiert mit organischen Liganden. Dabei sind verschiedene Oxidationsstufen getrennt zu untersuchen. Jede dieser drei Wechselwirkungen charakterisiert bereits ein komplexes System. Wie in der Abbildung angedeutet, ist hier aber ein hochkomplexes Reaktionsnetzwerk zu erforschen, bei dessen Erkundung Simulationen von erheblicher Bedeutung sind. Und: in manchen Fällen, denken Sie an Radionuklide, sind Computersimulationen vielleicht realen Experimenten vorzuziehen.

Chemie wird manchmal schlagwortartig als Querschnittwissenschaft bezeichnet, die sich mit vielen anderen Disziplinen berührt: Physik, Biologie, Material- und Ingenieurwissenschaften. Ich hoffe, meine Beispiele haben Sie davon überzeugt, daß Theoretische Chemie "richtige" Chemie ist.

Und: meine Damen und Herren, auch Computerchemie ist eine Querschnittswissenschaft!

Die Simulation komplexer molekularer Systeme für Anwendungen in Wissenschaft und Industrie erfordern Höchstleistungsrechner. Nebenbei: der Plural klingt hier einfach besser, dürfte aber die Realität auch besser charakterisieren. Dennoch soll dies heute nicht als unbescheidene Forderung interpretiert werden. Der neue Rechner wird es ermöglichen, neue Fragestellungen für komplexe Systeme anzugehen und wesentlich realistischere Simulationen durchzuführen. Komplexität in der Chemie hat mehrere Dimensionen, nicht nur die Systemgröße, auch die Notwendigkeit einer dynamischen Beschreibung erhöht die Rechenanforderungen. Daneben gibt es eine weitere Dimension, die ich hier nicht angesprochen habe, diejenige der Methodik: mit weniger approximativen Rechenverfahren erzielt man genauere Beschreibungen. Bisher erforderte die Beschreibung komplexer molekularer Systeme die Beschränkung von Simulationen auf vielleicht zwei dieser Dimensionen, mit dem neuen Superrechner können Computerchemiker in allen Aspekten, quasi entlang der Raumdiagonalen, die Qualität ihrer Simulationen verbessern und damit in neue Bereiche vorstoßen.

Abschließend sei erwähnt, daß der neue Höchstleistungsrechner sicher auch Anlaß sein wird, neue Simulationswerkzeuge zu entwickeln für die Forschung von morgen. Und, ganz wichtig: in der Chemie ist Lehre durch Forschung von zentraler Bedeutung. Mit dem neuen Höchstleistungsrechner als Forschungsinstrument vermitteln wir gleichzeitig Hochtechnologiekompetenz an die nächste Forschergeneration.

Damit möchte ich meine kurze Rundreise durch einige Teilgebiete der Chemie beenden, deren Erkundung durch die Nutzung des neuen Superrechners deutlich schneller vorangetrieben werden wird.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.